Samos 12 / Europawahl

Fast jeden Morgen stehe ich hier auf Samos um sieben Uhr auf, um kurz darauf ins noch
teilweise schlafende Camp zu gehen und Tickets für die Wäscherei zu verteilen. Momentan sind wir auf einem Level, wo von Zelten umringte Container stehen. Dicht aneinander stehende Doppelstockbetten beherbergen bis zu vier Menschen, auf dem Boden liegen weitere Matten/Decken oder Matratzen. Hauptsächlich leben hier junge Männer, aber auch ein paar wenige Frauen. Die Wände sind in allen möglichen Sprachen beschriftet mit “Samos no good”, “Freedom” und (so erzählt mir ein Community Volunteer, der farsi spricht) motivierenden Lebensweisheiten. Um die Container herum stehen Zelte. In anderen Containern gibt es Trennwände. Wie auf einer öffentlichen Toilette kann man durch den Spalt jedes Geräusch der anderen Abteile hören. Hier leben Familien und Frauengruppen.
Ich finde Menschen morgens sehr entzückend. Mit zerknautschtem Gesicht und verschlafenem Blick machen die BewohnerInnen ihre Tür oder ihr Zelt einen Spalt auf und sind erleichtert uns zu sehen, statt Nachrichten von der Administration zu bekommen.
In diesem Container scheinen überall Bettwanzen zu sein, alle Kinder sind bedeckt von Bissen und die Mütter zeigen uns besorgt ihre Kleinen. Wir müssen Ihnen erklären, dass wir nicht zur Campleitung gehören und nichts tun können, außer alles zu waschen, was Ihnen vielleicht ein paar Tage Ruhe geben könnte. Es tut mir schrecklich leid und ich bin froh, dass Sie Jemand Außenstehendem alles zeigen können und ich versichern kann, dass das nicht okay ist und jede Empörung mehr als berechtigt ist.Am Wochenende dürfen wir nicht ins Camp – ich kann also ausschlafen, denke ich am Freitag Abend als ich ins Bett gehe. Wenige Stunden später jedoch kommt Valentina, eine
Mitbewohnerin, in mein Zimmer. Komplett aufgelöst schüttelt sie mich wach.

Es gab einen Protest von Menschen aus dem Camp, die Polizei schlägt alle zusammen,
Tränengas, es braucht Zeugen, Augen die dort sind um das Schlimmste zu verhindern, so viele Augen wie möglich. Zwei Freiwillige wurden in der Wäscherei verhaftet – komm schnell, nimm deinen Ausweis mit.

So unfähig wie ich am Morgen bin, verstehe ich erst als ich das Haus verlasse langsam den
Ernst, die Absurdität der Lage. Und dass es die gegenwärtige Realität ist. Keine fünf Minuten von mir entfernt. Mir kommen langsam die Tränen hochgeschossen, ich bin generell ziemlich leicht aus der Fassung zu bringen vor meinem morgendlichen Kaffee.Ich weiß, dass ich mich zusammenreißen muss und nutze die drei Minuten um mich zu sammeln, um vor Ort mit meiner Anwesenheit irgendeine Wirkung zu erzielen.
Mir begegnet die Bereitschaftspolizei – in voller Montur, ich kann’s kaum fassen.
Bei der Wäscherei angekommen nimmt Valentina, als wäre nichts vorgefallen, Wäschesäcke entgegen. Das machen wir also so lange, bis niemand mehr ansteht. Später am Nachmittag entschuldigen sich Menschen, dass sie die Wäsche nicht morgens zur Wäscherei gebracht hätten, wie abgemacht, weil das Camp gesperrt war. Es rührt mich und schmerzt, wie menschlich und rein, ehrlich und respektvoll uns Menschen begegnen, während Sie solch brutalen unwürdigen Handlungen ausgesetzt werden. Als wir die Wäscherei verlassen, um zum Eingang des Camps zu laufen, steht dort eine Traube afrikanischer Männer am Fuß des Camps, eingekesselt von dreimal so vielen, montierten
Polizisten. Wir stehen gegenüber auf einem Grundstück einer NGO die wir kennen und schauen erstmal nur. Unauffällig holt Agus ihr Handy raus, um Fotos zu machen. Ein Grieche neben mir faucht uns an, wir sollen keine Fotos machen und keine Minute später kommt ein Polizist auf uns zu, Ausweise her. Keine Fotos.

Kommt mit zur Polizeistation.
Wir beschweren uns, dass es keinen Grund gibt, uns mitzunehmen, aber wir wissen auch, dass es unserer Organisation und den Schutzsuchenden nur mehr schadet, wenn wir zu rebellisch sind und Probleme mit der Polizei machen.

Kommt mit zur Polizeistation.
Wir beschweren uns, dass es keinen Grund gibt, uns mitzunehmen, aber wir wissen auch, dass es unserer Organisation und den Schutzsuchenden nur mehr schadet, wenn wir zu rebellisch sind und Probleme mit der Polizei machen. Es ekelt mich an, aber ich steige ins Auto. Die Protestierenden grölen, als wir mitgenommen werden. Ich hoffe, dass das keine erneute Eskalation bringt und niemand verletzt wird. Agus macht die Polizisten auf der Fahrt darauf aufmerksam, dass sie gerade gegen das Gesetz verstoßen. Sie kennt es. Sie sagen nichts. Als wir die Treppe der Wache hoch stampfen, erblicken wir unsere Kollegen und Kolleginnen. Nicht nur die aus der Wäscherei, auch die gesamte NGO für die Rechtsberatung ist schon da. Vor ein paar Stunden haben wir noch zusammen Bier getrunken, ein paar haben Glitzer im Gesicht. Auch ein Journalist, der gestern Abend dabei war sitzt auf dem Tisch der Station und raucht eine Zigarette. Sie erzählen mir, dass sie von den Geräuschen des Protests aufgewacht sind. Sie leben sehr nah am Camp und vor ihrem Haus wurden die Demonstrierenden von der Polizei verprügelt. Mit Schlagstöcken, dem Einsatz von Tränengas. Zurückgelassene FlipFlops der vor der Polizei
flüchtenden Demonstrierenden wurden zerschlitzt und heruntergefallene Handys zerschlagen. Wir geben alle unsere Handys ab und sollen warten. “Backgroundcheck”. Uns ist allen klar, was gerade passiert und es ist ekelerregend. Korruption, Vertuschen von offensichtlich nicht zu rechtfertigendem Verhalten der Polizei. Als Grund für unsere Festnahme wird uns genannt, dass wir die Demonstrierenden provoziert hätten, es ein Akt zur Prävention der Eskalation sei. Was für ein Witz. Jede demonstrierende Person des Morgens wurde von mindestens einem Polizisten gejagt, geschlagen und in die Enge getrieben. Die einzige Genugtuung ist die Zigarettenasche, die ich auf den Boden fallen lasse, während ich auf der Station rauche. Wir alle wissen, wer die Macht hat, zu tun was auch immer sie wollen, es bringt nichts für die Menschen im Camp, sich hier weiter aufzuführen. Wir lassen uns nicht viel anmerken und versuchen uns ein bisschen abzulenken und locker zu bleiben.

Außerdem ist es gut, dass wir da sind, so können keine CambewohnerInnen ohne Rechtsbeistand zur Station gebracht, verletzt und grundlos eingesperrt werden. Zumindest nicht so lange wir da sind.

Außerdem ist es gut, dass wir da sind, so können keine CambewohnerInnen ohne Rechtsbeistand zur Station gebracht, verletzt und grundlos eingesperrt werden. Zumindest nicht so lange wir da sind. (…Später erfahren wir, dass drei Menschen des Protestes festgenommen wurden. Darunter eine Frau.) Nach drei Stunden sinnlosen Wartens, reiner Schikane, lassen sie uns frei. Keiner von uns ist hoch kriminell und unsere identitäten stimmen, wissen sie nach 180 Minuten Recherche. Der Protest ist nun vorbei, alles hat sich beruhigt. Ein befreundeter Rechtsberater, der seit einem knappen Jahr in Griechenland ist, ist das erste mal seit drei Monaten sauer, wütend und traurig. Er erzählt mir von der Ungerechtigkeit, dass es am Ekelhaftesten ist, dass das schlimmste was uns passieren kann, das Beste Ende jeder Verhaftung der Schutzsuchenden ist, in Europa 2019, einen Tag vor der Wahl des demokratischen Kontinents…
Alles was wir tun können ist das in die Medien bringen. Da sein, weiter machen und das Herz nicht verlieren. Die Medienbeauftragte unserer Organisation ist sich sehr bewusst über Probleme, die wir bekommen könnten, also bleiben wir anonym und können kaum was direkt veröffentlichen, wofür wir keine Beweise haben. Der Einsatz von Tränengas, dass es ein komplett friedlicher Protest war, dass wir verhaftet wurden. Also beauftragen wir andere Medien und Gruppen und veröffentlichen die Informationen anonym.
Europa, 2019

Die Pflanzen gelten als Zeichen des friedlichen Protests.

© Samos (Greece) 2019, Jérome Fourcade

SamosVolunteers  *

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