Kategorie: SAMOS

SAMOS 9 / Lagerhaus

Es hat kaum geregnet in den letzten Tagen. Das Wetter ist super angenehm, ein Wind weht die ganze Zeit, die Sonne scheint und am Abend braucht es einen Hoodie und einen Schal, Zuhause ist es gemütlich, mehr und mehr machen wir Filmabende in einem der Häuser und kuscheln uns zu einem Wein in die Betten.

„Wir gucken idiotische Filme, die nichts mit der Realität zu tun haben.“

Wir gucken idiotische Filme, die nichts mit der Realität zu tun haben. Über Vampire, 80 % meiner Vorschläge werden abgelehnt, weil niemand etwas Düsteres oder Ernstes gucken möchte und sollte, es braucht muntere Zeit am Tag. Die Realität ist schockierend genug, da braucht man nicht noch eine Doku am Abend. Für uns, mit Dach und Steinwand Gesegnete, ist das Wetter kuschlig, für die Menschen im Camp wird es ungemütlich. Für die Schmuggler heißt es, noch schnell so viel Geld wie möglich machen, bevor es wieder Unwetter gibt und die Fahrten zum Sonderpreis rausgehen müssen. Ja, bei Regen und Sturm gibt es Rabatt auf die Überfahrt, ekelhaft. Dementsprechend viele Boote kamen in der letzten Woche an. Täglich bis zu 200 Menschen, am Abend sieht man die Polizeiwägen vom Hafen zum Camp fahren. Hinter den Gittern im Auto sitzen gequetscht Menschen, hauptsächlich Männer, viele Kinder, ein paar Frauen. Außerhalb des eingezäunten Camps, in dem Bereich wo wir die Kidsactivities machen, entsteht momentan schon fast ein neues Camp. Etliche Zelte stehen dort, der Platz wird sogar hier knapp. Die Flächen sind steinig, übersät mit Wurzeln, steil bergab. Die Menschen bauen sich Ebenen aus Erde und Paletten. Es sind beinah ausschließlich Afghanen und Afghaninnen hier. Offensichtlich ist Afghanistan kein sicheres Land, so wie es von der EU eingestuft wurde.

„Viele Familien. Durchschnittlich drei bis vier Kinder pro Familie, viele Babies. Wenn es etwas stärker regnet, werden die Zelte einfach weggeschwemmt werden.“

Viele Familien. Durchschnittlich drei bis vier Kinder pro Familie, viele Babies. Die Zelte sind die Gleichen, wie in der anderen „extended area“ auf der anderen Seite des Camps. Sie bestehen aus einer Lage, jeder Regentropfen kommt hier durch. Wenn es etwas stärker regnet, werden die Zelte einfach weggeschwemmt werden. Beim Tickets für die Wäscherei verteilen sind wir jetzt hier. Wir versuchen die Wäsche der Neuankömmlinge zu waschen, damit sie immerhin etwas „Willkommenheißendes“ haben. Immerhin trockene, saubere Klamotten, wer weiß was Sie hinter sich haben. Viele Menschen haben keine Wäsche. Alles verloren, sagen sie. Decken werden nicht mehr verteilt. Die Zelte sind der Campleitung ausgegangen.

„Ich bin sicher: jeder Mensch in diesem Camp ist allzeit bereit zu fliehen.“

Gestern morgen weckten wir die Menschen auf, eben um Ihnen Tickets zu geben. Menschen aus dem Schlaf zu holen ist super intim. Oft bekomme ich das Gefühl, die Menschen erwarten nun schreckliche Neuigkeiten. Ich bin sicher, Jeder Mensch in diesem Camp ist allzeit bereit zu fliehen. Die griechische Armee macht heute irgendwelche Tests, Sirenen beschallen die Insel regelmäßig, meine Mitbewohnerin erwähnt, dass es ganz schön „triggering“ sein muss. So wie das Feuerwerk letzte Nacht, der Donner letzte Woche. Neulich kam ein Syrer mit seinen dreijährigen Zwillingen zu den KidsActivities, er wollte mir die Kinder geben, ich sagte ihm, dass er bei Ihnen bleiben muss, wir nicht ewig bleiben.

„Wo bekomme ich Klamotten für meine Kinder? Gibt es eine Schule? Kann ich irgendwo zum Arzt gehen, außerhalb dieses Camps? Wo gibt es ein Zelt?  Wie kann ich hier weg?“

Er kam einen Tag vorher an und fragt mich die klassischen ersten Fragen: Wo bekomme ich Klamotten für meine Kinder? Gibt es eine Schule? Kann ich irgendwo zum Arzt gehen, außerhalb dieses Camps? Wo gibt es ein Zelt? Wie kann ich hier weg? Ich kann ihm nur sporadisch weiterhelfen, es gibt eine freiwillige Ärztin, die auf Samos ist, eine Schule für Kinder ab 7, eine für Kinder ab 12. Alles staatsunabhängige Organisationen.
Klamotten werden nirgendwo verteilt. Es tut mir leid, sage ich. Er zeigt auf seine Kinder, denkt, dass ich vielleicht doch etwas tun kann, kann ich aber nicht. Er kann welche kaufen, von welchem Geld? Er muss 25 Tage auf sein Papier warten, damit er eine Karte beantragen kann um Zugriff auf die monatlichen 90 Euro zu haben. Theoretisch darf er das Camp für diese 25 Tage eh nicht verlassen. Praktisch gibt es überhaupt keinen Platz für ihn, um das Camp überhaupt zu betreten, geschweige denn zu bewohnen.
Es fliegen Flugzeuge am Himmel lang, die Kinder schreien und jauchzen, looklooklook!!! Die Zwillinge ducken sich, der Vater streichelt ihre Köpfe, guckt mich an und sagt, dass sie neu aus Syrien kommen. Ich glaube, ich verstehe. Zurück zum Ticketing.

„Morgens sehe ich viele Männer in Schlafsäcken auf der Erde, es ist kalt und feucht, immerhin keine Familien ohne Zelt, denke ich. Da schaut ein kleiner Junge aus dem Schlafsack, verdammt.“

Morgens sehe ich viele Männer in Schlafsäcken auf der Erde, es ist kalt und feucht, immerhin keine Familien ohne Zelt, denke ich. Da schaut ein kleiner Junge aus dem Schlafsack, verdammt. Sie sind nicht die Einzigen, die die Nacht draußen verbringen mussten. Am Sonntag am Strand erzählten mir Freiwillige, die im Kontakt mit der Campmanagerin stehen, dass das Camp keine Zelte mehr hat, UNHCR auch nicht. Später fahren wir zu SamosVolunteer’s Lagerhaus. Dort sehe ich einen Berg Zelte, tausend UNHCR Decken, neben tausend Kisten, beschriftet mit: „Men Shirts Size S, M“, „Women’s Bra’s“, „Baby Jumpers“ und so weiter.

„Wir haben also Zelte im Lagerhaus, wir haben tausend Klamotten dort, Hygieneartikel, Schreibwaren, Decken, Schlafsäcke, Windeln, Binden, Babyanzüge, Wintermäntel, Schals, Mützen. Die Campleitung verbietet uns jedoch, diese zu verteilen.“

Wir haben also Zelte im Lagerhaus, wir haben tausend Klamotten dort, Hygieneartikel, Schreibwaren, Decken, Schlafsäcke, Windeln, Binden, Babyanzüge, Wintermäntel,Schals, Mützen. Die Campleitung verbietet uns jedoch, diese zu verteilen. Ich habe eine neue Antwort auf meine Frage gefunden. Warum handelt diese Frau so, welchen Zweck verfolgt sie? Vermutlich den gleichen, wie Europa. Lasst uns Europa ja nicht zu schmackhaft als Zufluchtsort machen. Sonst kommen sie noch alle. Ekelhaft, vielleicht wäre ich doch lieber nicht auf die Antwort gekommen. Niemand will nach Europa, weil es nach Spaß klingt. Und dort liegen die Menschen auf dem kalten Boden, das Kind hustet, viele Menschen husten, viele Menschen kommen zu uns und fragen nach einem Ticket, ihre Frau und Kinder seien krank. Es tut mir leid, sage ich. Wir waschen so schnell wir können.

Neulich kam ein Laster voll mit Spenden an, es war wie Weihnachten, alles auszupacken (Ich hätte niemals gedacht, jemals so aufgeregt und freudig über Wolle, Stoffe, Zahnpasta und Flötenreiniger zu sein.) Gleichzeitig war es so deprimierend und frustrierend. So viele Dinge, die wir nicht an den Mann bringen können. Halbscherzend überlegten wir, wie wir den Menschen zuflüstern könnten, dass es das Lagerhaus gibt. Es ist so leicht einzubrechen, wir überlegten sogar das Tor einfach aufzulassen. Egal wer hier „klaut“ kann die Dinge garantiert besser gebrauchen, als diese Riesenhalle, befüllt mit
Boxen und Boxen. Wir müssen einen Weg finden, die Sachen den Menschen unterzujubeln, ohne dass jemand im Camp mitbekommt, dass SamosVolunteers Dinge verteilt. Immer wieder reden wir darüber. Können wir Klamotten in die Wäschesäcke schummeln? Säcke mit Klamotten in Campnähe einfach hinstellen? Ohne Streit zu verursachen? Und ohne der Campleitung irgendeinen Anlass zu geben, uns jede Genehmigung und Zusammenarbeit zu nehmen? Wir kommen zu keiner Lösung. Die Schwester von Sarah aus Kanada wird im Januar herkommen, ihre Schwester besuchen und einen Artikel schreiben. Über das Medicalcenter, damit der Zusammenhang zu SamosVolunteers nicht klar wird und woher die Autorin die Informationen über die Konditionen im Camp und die Hintergrundarbeit hat. Und trotzdem Aufmerksamkeit gewonnen wird, das könnte Druck ausüben.

 „Aber das dauert und jetzt ist es kalt, jetzt haben Menschen keine Zelte, keine Kleidung und kein Essen und auch ein veröffentlichter Artikel ändert nichts Bahnbrechendes.

Erschreckenderweise sind die Menschen nicht mehr groß überrascht, wie schrecklich in diesem Moment, im 21. Jahrhundert, mit Menschen umgegangen wird.“

Aber das dauert und jetzt ist es kalt, jetzt haben Menschen keine Zelte, keine Kleidung und kein Essen und auch ein veröffentlichter Artikel ändert nichts Bahnbrechendes. Erschreckenderweise sind die Menschen nicht mehr groß überrascht, wie schrecklich in diesem Moment, im 21. Jahrhundert, mit Menschen umgegangen wird. Wir haben Babybeutel zusammengestellt. Mit Miniwindeln, Tüchern, kleiner Decke, Minijumper, Creme. Für Neugeborene, das wird die Campleitung kaum mitkriegen. Seitdem schicke ich jede hochschwangere Frau ins Alphazentrum und sage ihr, sie soll sich Einen abholen. Eine Frau kam heute mit ihrem neugeborenen Baby, eingewickelt in die Decke und brachte ihre Freundin, sie waren so dankbar. Außerdem verteilen wir am Samstag ein kleines „Willkommensgeschenk“ an jede Frau, die zum Frauennachmittag kommt. Mit Seife, Binden, Kamm, Zopfgummi, alles was wir loswerden können, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Das ist aber auch das Höchste was wir erstmal tun können. Die Menschen schlafen immer noch draussen.

Wir haben ein Mikrofon in der Jugendschule installiert, es wurde gespendet und lange nicht benutzt, bis Onur, ein 16 Jähriger Kurde, der hier ohne Familie ist, sich von Sarah gewünscht hat, die Lieder aus der Gitarrenklasse aufzunehmen und auch zu singen. Einen Tag bevor er nach Athen transferiert wurde, haben wir ihn und seine zwei (auch unbegleiteten, minderjährigen) Freunde aufgenommen. Es war so wundervoll, sie haben sich für Instagram gefilmt und sich über ihre Stimmen gefreut. Im Anhang könnt ihr Onur und Haydar hören. Sie waren so aufgeregt und dankbar. Welch talentierte Jungs!!

„KidsReadingcircle, jeden Morgen um 9 Uhr fahren wir hoch zum Camp und singen dort Lieder mit den verschlafenen Kindern, sie werden warm von der kalten Nacht, waschen sich ihre Hände, ihr Gesicht, wir lesen eine Geschichte vor und dann lernen Sie einen Buchstaben. Kidsactivities mit mittlerweile bis zu 90 Kindern, ich liebe sie alle.“

KidsReadingcircle, jeden Morgen um 9 Uhr fahren wir hoch zum Camp und singen dort Lieder mit den verschlafenen Kindern, sie werden warm von der kalten Nacht, waschen sich ihre Hände, ihr Gesicht, wir lesen eine Geschichte vor und dann lernen Sie einen Buchstaben. Sie sind so viel friedlicher am Morgen, als am Nachmittag Kidsactivities mit mittlerweile bis zu 90 Kindern, ich liebe sie alle. Auch wenn sie teuflisch sein können.

Djamila aus Somalia ist seit einem halben Jahr hier und hat in sechs Monaten Englisch, griechisch und französisch gelernt. Jetzt unterrichtet sie Griechisch im Alphazentrum und übersetzt für die RefugeeLawClinic. Und Berivan aus dem Irak, das Herz des AlphaZentrums und eine der Organisiertesten und taffesten Menschen, die ich kenne. Beide so herzlich, witzig und angenehm. Berivan ist auch nach Athen transferiert worden, ich hoffe es geht ihr, ihrem 17 Jährigen Bruder und deren 4 jährigen Bruder gut.
Beim Spaziergang am Sonntag an einem fernabgelegenen Strand bin ich auf diese Schwimmwesten gestoßen. Ich vergesse hier im Kontakt mit den Menschen schnell, was ihre Vergangenheit für Narben hinterlassen hat, weil so viel Freude und Herzlichkeit im Vordergrund steht.

Onur:

 

Haydar:

 

 

SamosVolunteers  *