Kategorie: ALLGEMEIN

Samos 10 / Menschenrechte

Wenn ein Zug viel länger braucht und es heiß ist, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Wasser ausgegeben wird.

„Wenn es in einem Dorf in Deutschland stürmt und Häuser überschwemmt werden, fühlt sich die Feuerwehr selbstverständlich verantwortlich, zu helfen.“

Wenn es in einem Dorf in Deutschland stürmt und Häuser überschwemmt werden, fühlt sich die Feuerwehr selbstverständlich verantwortlich, zu helfen. Wenn jemand auf der Straße oder im Supermarkt umkippt, kommt ein Krankenwagen innerhalb weniger Minuten. Zugang zu Wasser im Krankenhaus ist das Normalste der Welt und alles andere wäre skurril. Wenn ein Kind hungert, fühlt sich ein wohlhabenderer Mensch verantwortlich, alles zu geben, was möglich ist, um ein Leben zu retten. Es ist selbstverständlich, dass Familien mit neugeborenen Kindern nicht in einem Zelt ohne Zugang zu Wasser oder Essen, noch Geld oder Klamotten leben können. In Europa. Hier: Es ist wider jedes Menschenrecht und gegen jedes Verständnis von Gleichheit und jede Moralität, mit der sich Europa doch so schmückt. Es gab einen Sturm, ziemlich starken Regen. Ich wache am Morgen auf und es ist frisch. Auf der Terrasse möchte ich meine sauberen Klamotten von der Leine nehmen, alles nass und kalt, Mist. Noch schlaftrunken verlasse ich die Wohnung, auf dem Weg bestelle ich Kaffee zur Wäscherei, wo ich Sarah treffe, um dann hoch ins Camp zu gehen. Tickets zum Wäsche waschen verteilen. Da in den letzten Wochen so viele neue Menschen angekommen sind und die Zahl der Menschen im Camp um weitere 1000 gestiegen ist (was schon alleine die eigentliche Kapazität des Camps überschreitet), mussten wir ein neues Konzept entwickeln. Neuankömmlinge bringen oft von der Bootsfahrt triefende Wäsche, oder waren auf der Flucht für Ewigkeiten nicht in der Lage, Wäsche zu waschen. Auf der anderen Seite brauchen wir momentan mehr als zwei Monate, um des ganzen Camps Wäsche zu waschen, auch eine Ewigkeit.

Durch den Regen, der durch jedes dieser einlagigen Sommerzelte dringt, sind so ziemlich jedermanns Klamotten nass. In einem Meeting versuchen wir eine Lösung zu finden, es gibt keine. Es ist schrecklich, so oder so.

Durch den Regen, der durch jedes dieser einlagigen Sommerzelte dringt, sind so ziemlich jedermanns Klamotten nass. In einem Meeting versuchen wir eine Lösung zu finden, es gibt keine. Es ist schrecklich, so oder so. Einfach präzise sein, niemandes Wäsche doppelt waschen. Heute gehen wir also in die „extended area 2“, von den BewohnerInnen auch „the jungle“ genannt. Die Straße,, die zum Camp führt trennt zwei Gebiete auf dem Berg. Oben sind Zelte nah aneinander gequetscht, diese Fläche ist schon seit längerer Zeit überfüllt. Fast ausschließlich AfrikannerInnen leben hier. Der untere Bereich ist weitflächiger, weniger geschützt und steiniger. Hier leben vorrangig AfghanerInnen und IranerInnen, viele Familien. Hier finden momentan auch die Kidsactivities und der morgendliche Lesekreis statt. Toiletten gibt es nicht, Zugang zu Wasser auch nicht. Die meisten Zelte sind selbstgekaufte Zelte vom „Chinashop“. Es sind die gleichen, bunten, einlagigen Sommerzelte. Hier und dort findet sich ein Haufen Müll, ein Bereich, der eindeutig zur Toilette ernannt wurde oder ein Wohnzimmer im Freien, bestehend aus einer Plane, einem alten Sofa und Pappe als Teppich, eine Wäscheleine, Kinder, die inmitten des Mülls das spannendste Spiel spielen. Wir laufen schweigend hoch, es kommen uns frierende Menschen entgegen. Anders als sonst so früh am Morgen scheint das ganze Camp schon seit Stunden wach zu sein. Oben angekommen, nehmen wir den Ausgang eben zu jenem „Djungel“. Viele Menschen auf dem Weg halten uns an, der Sturm, der Regen, das Zelt, es ist schrecklich und so kalt. Können wir bitte bitte ein Ticket ausgeben? Nur ein Beutel, nur ein Schlafsack. Nein können wir nicht, tut uns leid, müssen wir sagen und laufen weiter.
Es ist in der Tat kalt, ich trage alle warmen Klamotten die ich habe, einen Schal, eine Kapuze und feste Schuhe und der Wind dringt durch alles hindurch.
Momentan sind wir abwechselnd in dem afrikanischen Bereich und dem afghanischen, wo die Neuankömmlinge sind. Schnell sind wir umzingelt von französisch sprechenden Männern und zwei Frauen. Sarah spricht fließend französisch, also übernimmt Sie den Großteil der Kommunikation. Es tut ihr leid, sagt sie, aber sie muss alle bitten, eine Schlange zu bilden. Wir lachen alle, weil sie sehen, dass wir anders sind und sie nicht wie am Fließband abarbeiten wollen, alle gleich behandeln werden und Jeder rankommt, bis wir Bescheid sagen, dass wir am nächsten Tag wiederkommen müssen.

„Die Menschen zittern, zeigen auf die Zelte, die teilweise komplett zerrissen sind, vom Wind auseinandergenommen. Sie schütteln mit dem Kopf, bleiben immer noch schmunzelnd, machen Witze über die Absurdität“

Die Menschen zittern, zeigen auf die Zelte, die teilweise komplett zerrissen sind, vom Wind auseinandergenommen. Sie schütteln mit dem Kopf, bleiben immer noch schmunzelnd, machen Witze über die Absurdität. Jeden Tag beeindrucken mich die Menschen erneut mit ihrer herzlichen Art, der Geduld, dem Verständnis und dem Humor.
Wir sind überrascht, dass nicht alle ausrasten. Die Menschen versammeln sich in Gruppen, es sieht so aus, als würden Pläne geschmiedet werden, wie, ohne Geld und Ressourcen, bis zum Abend ein Zuhause entstehen kann. Sarah und ich laufen herum, versuchen diese Bilder als Beweismaterial heimlich einzufangen, um sie allen zu zeigen.  Eine Schar Kinder kommt mir entgegen, ca 15 Jungs im Alter von 3 bis 12. Sie
rufen „Malaka, Malaka, Malaka“, das griechische Schimpfwort, das jeder hier kennt.
Ich schreibe der Kidsactivitiesgruppe warum kein Lesezirkel stattfindet. Am Morgen waren alle an dem Platz versammelt und deutlich mit anderen Dingen beschäftigt, sie mussten umdrehen. Eine Traube Menschen versammelt sich um uns, auf französisch kann ich ein paar Fetzen verstehen, das ist nicht normal sagen sie immer wieder, das ist nicht menschlich.

„Wieso lassen sie uns nicht einfach diese Insel verlassen? Wir sind keine Tiere.“

Wieso lassen sie uns nicht einfach diese Insel verlassen? Wir sind keine Tiere. Das ist doch nicht normal, oder? Wir versichern ihnen, dass hier nichts normal ist. Dass es nicht menschlich ist und dass sie mehr als im Recht stehen sich darüber aufzuregen. Ein Mann erklärt mir ganz ruhig, dass die Probleme gelöst wären, wenn einfach die Grenzen geöffnet würden. Was ist daran so schwer? Ein Neuankömmling, Kongolese, den ich vor ein paar Tagen mit seinem fünfzehnjährigen Bruder im Alphazentrum getroffen habe kommt zu mir. Jetzt haben wir auch das Zelt verloren und kein Geld für ein Neues. Keine trockenen Klamotten und kein Essen. Nichts, aber es ist okay. Kein großes Problem, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. Alles was ich Ihnen anbieten kann ist eine warme Tasse Tee, wärmt euch auf, sage ich. Es tut mir so leid, sie bedanken sich.

Am Abend unterhalte ich mich mit einem iranischen Psychologen, er sagt, dass er nun auf den nächsten Monat warten muss, bis die monatlichen 90 Euro kommen, um sich dann das dritte Zelt hier auf Samos zu kaufen. Er sagt, er sei okay. Er sagt, er ist ein erwachsener Mann, er ist stabil und kann Einiges ab. Er kann sich nur nicht vorstellen, wie es den Familien geht. Er kann sich nicht vorstellen, wie es ist, im Zelt zu liegen, mit deinem Kind im Arm und den Sturm zu hören. Was macht man dann? Was machen die Kinder? Der Schaden ist so groß, das ist nicht okay, schwangere Frauen, Kinder jeden Alters. Das ist nicht okay, aber er verkraftet das, kein Problem.

„Zwischen uns sitzt Ali Reza, der auf seinen Papa wartet. Ein etwa siebenjähriger Junge, so alt wie mein Bruder, so sanft und keck wie er. Ich weiß, dass er auch im „Djungle“ lebt.“

Zwischen uns sitzt Ali Reza, der auf seinen Papa wartet. Ein etwa siebenjähriger Junge, so alt wie mein Bruder, so sanft und keck wie er. Ich weiß, dass er auch im „Djungle“ lebt.
Später erzählt mir Irshad, ein pakistanischer Communityvolunteer, dass sich um die 200 Menschen vorm Büro der Campleitung versammelt haben und einen Sitzstreik halten.
Wofür genau kann ich nicht herausfinden, sein Englisch ist holprig, aber ich kann es mir vorstellen.

„Fünf Stunden Essensschlange und nicht genug Essen für alle, keine Zeltausgabe, keine Decken, keine Klamotten, die ausgegeben werden, alle Toiletten im Camp sind kaputt, alles ist überfüllt und Sie (die Campleitung) hat vor ein paar Tagen beschlossen, dass es den Menschen außerhalb des Zauns in der extended area nicht erlaubt sind, Wasserkanister aus dem Camp zu „schmuggeln“.“

 

Fünf Stunden Essensschlange und nicht genug Essen für alle, keine Zeltausgabe, keine Decken, keine Klamotten, die ausgegeben werden, alle Toiletten im Camp sind kaputt, alles ist überfüllt und Sie (die Campleitung) hat vor ein paar Tagen beschlossen, dass es den Menschen außerhalb des Zauns in der extended area nicht erlaubt sind, Wasserkanister aus dem Camp zu „schmuggeln“. Mir fehlen die Worte.
Zuhause sammeln sich einige Freiwillige in der Küche einer WG. Außerdem eine Freiwillige des Medicalteams. Sie ist Engländerin mit iranischen Wurzeln und übersetzt. Sie erzählt, dass sie heute im Krankenhaus war. Mit einem Baby und dessen Vater, das Baby hat seit Tagen Fieber und das Medicalteam hatte ein bestimmtes Medikament nicht mehr. Sie erzählt, dass die Schwestern im Krankenhaus erstmal meckern, warum er nicht zu seinem Termin erschienen sei. Sie bleibt ruhig und erklärt, dass er kein griechisch verstehe, geschweige denn lesen könne, also nicht wusste, dass er einen Termin hatte.

„Sie erklärt, dass das Baby Medizin braucht. Und zwar schnell. Sie müssen Stunden warten.“

Sie erklärt, dass das Baby Medizin braucht. Und zwar schnell. Sie müssen Stunden warten. Irgendwann kommen sie ran. Die Ärztin gibt der freiwilligen Ärztin die Medizin.
Währenddessen verabreicht sie dem Kind eine kleine Dosis Paracetamol, da das Fieber wieder steigt. Die Ärztin schreit die Freiwillige an. Wie könne sie dem Kind Medizin verabreichen, ohne die Temperatur zu checken. Ruhig antwortet Sie, dass es eine kleine Dosis war und sie in der Lage ist, abzuschätzen, wie hoch des Babies Fieber sei. Außerdem habe der Vater im Camp auch kein Thermometer, das sollte eher Sorge der Ärztin sein.
Auf griechisch dreht sich die Ärztin zu den Schwestern und redet gehässig und gestikulierend darüber, dass er natürlich kein Geld für die Gesundheit seines Babys hat, aber für Alkohol und Zigaretten. Die Übersetzerin versteht und verliert ihre Ruhe. Woher wollen sie das wissen, wie kann sie es wagen, dem besorgten Vater und seinem Kind nicht einfach zu helfen. Wieder im Wartezimmer wollte Sie den Beiden Wasser bringen, sie hatte einen Becher und lief zur Küche und fragt nach Wasser, auf griechisch. Die Schwestern schütteln nur mit dem Kopf, Sarah erzählt, dass es kein Wasser in dem Krankenhaus für Patienten gibt. Wahrscheinlich nur kein Wasser für ausländische, nicht weiße Patienten. Widerwärtig, wie kann das legal sein? Allem Anschein nach gelten also Menschenrechte in Europa, die so groß geschrieben werden, womit sich die europäische Union selbst so sehr schmückt und was sie ausmachen sollte – Gleichheit, Freiheit, Grundrechte für Alle, nicht für Menschen in dieser Krisensituation. Nicht für Menschen
aus dem Ausland, ich dachte wir wären darüber hinweg.
Widerwärtig.

 

SamosVolunteers  *